Wohnzimmer-Lyrik

Dichterin liest in privater Atmosphäre 

von Frank Behrens

Tempelhof – Wohnzimmer sind private Räume. Und eigentlich kein Platz für Literaturlesungen. Genau diese Spannung nutzt die Lichtenrader Lyrikerin Katharina Schäfer für ihr Projekt „PrivatLesungen“. Die 39-Jährige kommt mit ihrem Gedichtband „Weil ich keine Jüdin bin“ in Privatwohnungen und liest daraus. Die Gastgeber laden Freunde ein, sorgen für Getränke und Imbiss. Katharina Schäfer liefert das Programm. Wie schon der Titel ihres Gedichtbandes vermuten löste ist es keine leichte Kost, der Lichtenrade Künstler Peter Gustavus war neugierig und lud ein zur Lesung.

Ein Dutzend Freunde und Bekannte versammelten sich im Lichtenrade Reihenhaus von Gustavus. Gespannt lauschen sie Katharina Schäfer. „Am Anfang der Lyrik steht die Sprachlosigkeit“, liest sie und: „Tausendmal auferstanden die Toten. Tausendmal niedergeknüppelt, verlacht. Tausendmal nach Auschwitz gebracht.“ Im Wohnzimmer ist es still. So still, dass man jedes Ruckeln in den Sesseln hört. Jedes Kauen.

Gegen 21 Uhr kommt Gustavus‘ Sohn nach Hause. Er läuft quer durch die Veranstaltung. Er kann nicht anders, schließlich ist er hier zu Hause. Katharina Schäfer wartet, liest weiter. Die Idee, Gedichte in Privatwohnungen vorzutragen kam Frau Schäfer „auf einer Tupper-Party“, wie sie bekennt. „Ich habe selbst drei Kinder und weiß wie das ist, wenn man als Mutter Kulturveranstaltungen besuchen will. Da käme mir solch ein Angebot sehr entgegen. Gerade Lichtenrade ist ja nicht so reich gesegnet mit“ Um die schwere literarische Kost „besser verdaulich“ zu machen, wie sie sagt, unterbricht die Lyrikerin ihre knapp einstündige Lesung durch musikalische Einladungen. Klezmer und Händel vom Kassettenrekorder.

Nach der Lesung steht Katharina Schäfer für ein Gespräch zur Verfügung. Gastgeber Peter Gustavus scheint den meisten Zuhörern aus der Seele zu sprechen, als er sagt: „Ich denke, die Gedichte muss man erst einmal sacken lassen.“ Doch langsam kommen die Fragen, eine nach der anderen.

„Haben Sie einen persönlichen Bezug zu Auschwitz?“, will eine Zuhörerin wissen. „Ich bin in Süddeutschland aufgewachsen“, erzählt Katharina Schäfer, „ich habe nicht zu Hause, sondern in der Schule von Auschwitz erfahren. Und doch wurde dieses Thema auch in der Schule nur angeschnitten.“ Nach einer kurzen Pause fährt sie fort: „Mein Vater war als junger Mann in der Waffen-SS. Auch er ist einer, der in Auschwitz hätte sein können. Ich weiß, dass ihn das später sehr beschäftigt hat.“

„Wie sind die Reaktionen bei Lesungen?“, will eine andere Zuhörerin wissen. „Sehr unterschiedlich. Heute Nachmittag habe ich bei älteren Menschen gelesen, die fragten mich, warum ich keine Liebesgedichte schreibe. Dabei schreibe ich auch Liebesgedichte. Nur sind sie nicht in dem Gedichtband.“ Zurzeit finden die „PrivatLesungen“ nur in Tempelhof-Schöneberg statt, weil sie von der dezentralen Kulturarbeit des Bezirks gefördert werden. Bis zum Jahresende sind noch vier Termine frei. Infos unter 76 40 37 94 oder info@joanmartin.de per E-Mail.

 

30.10.2001, Berliner Morgenpost